Ich muß diversen Vorredner widersprechen. Innensenator Mäurer hat nämlich leider recht wenn er sagt, daß Türken „quasi Unions-Bürger“ seien, jedenfalls was ihren aufenthaltsrechtlichen Status angeht. Die Äußerung von Mäurer fiel im Zusammenhang mit der Frage nach der Ausweisung von kriminellen Mitgliedern der besagten Großfamilie.
Aufgrund des Assoziationsvertrages EWG-Türkei aus dem Jahre 1963 und dem Beschluß des Assoziationsrates EWG-Türkei ARB 1/80 vom 19.09.1980 genießen türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen in Deutschland denselben Ausweisungsschutz wie EU-Ausländer, wenn sie mindestens ein Jahr ordentlich (d.h. legal und sozialversicherungspflichtig) bei einem Arbeitgeber beschäftigt waren (Art. 6 1/80 ARB). Wohlgemerkt, diese Regelung gilt für nur für Arbeitnehmer und damit für abhängig Beschäftigte, nicht für Selbständige oder Studenten.
Allerdings hat der EuGH in seiner Rechtsprechung den Begriff „Arbeitnehmer“ sehr weit ausgelegt. Den Status nach Art. 6 1/80 ARB kann auch ein türkischer Staatsbürger erwerben, der zwölf Monate lang nur geringfügig beschäftigt war (mind. 20 Stunden/Woche). Somit unterfällt auch ein türkischer Student, der neben seinem Studium gejobbt hat, unter die Schutzklausel des 1/80 ARB. Oder ein Türke, der 12 Monate lang Aushilfe in der Dönerbude seines Onkels war (und zwar selbst dann, wenn der Arbeitsvertrag von vornherein nur auf diesen Zeitraum befristet war.
Da es sich beim Assoziationsvertrag EWG-Türkei und den daraus abgeleiteten Beschlüssen um europäisches Recht handelt, treten nationale ausländerrechtliche Bestimmungen der Mitgliedsstaaten zurück. Das gilt auch für die Bestimmungen zur Ausweisung straffällig gewordener Nicht-EU-Ausländer.
Mit Blick auf türkische Staatsbürger in Deutschland, die die Voraussetzungen des Art. 6 1/80 ARB erfüllen (bzw. deren Familienangehörigen nach Art. 7 1/80 ARB), finden wegen Art. 14 1/80 ARB die strengen gemeinschaftsrechtlichen Ausweisungsmaßstäbe Anwendung, die auch für EU-Bürger gelten. Und das heißt: Die Begründung einer Ausweisung muß sehr ausführlich erfolgen und auf das persönliche Verhalten des türkischen Staatsangehörigen, aus dem eine Zukunftsprognose abzuleiten ist, abstellen. Eine generalpräventive Ausweisung zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ist nicht möglich. Und selbst in Fällen, in denen das deutsche Recht die zwingende Ausweisung eines Nicht-EU-Ausländers zum Beispiel wegen schwerer Straftaten vorsieht, kann 1/80 ARB die Anwendung der ausländerrechtlichen Bestimmungen für einen betroffenen türkischen Staatsbürger in Deutschland verhindern.
Bleibt noch anzumerken, daß die Hürden für die Ausweisung türkischer Staatsbürger auch in der Praxis sehr hoch sind. Kürzlich wurde der Fall eines türkischen Straftäters bekannt, der nach 15 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen wurde und wegen der oben dargelegten gestezlichen Bestimmungen nicht ausgewiesen werden konnte, weil das Gericht dem Mann eine positive Zukunftsprognose bescheinigte.
Das ist wie gesagt die Rechtslage. Das Problem läßt sich aus meiner Sicht kaum juristisch, sondern nur politisch lösen. Und das bedeutet: Aufhebung des Beschlusses 1/80 ARB oder noch besser Kündigung des Assoziationsabkommens mit der Türkei. Das freilich würde bedeuten, eine EU-Mitgliedschaft der Türkei in der EU endgültig zu verneinen (der Abschluß des Assoziationsvertrages diente dem Zweck, die Türkei an die damalige EWG heranzuführen, um zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit einer Mitgliedschaft des Landes in der EWG zu prüfen). Und dafür gibt es in der EU derzeit wohl keine politischen Mehrheiten, jedenfalls nicht bei den Regierungen der Mitgliedsstaaten.